Jury Zürcher Filmpreis 2023
Eine jährlich wechselnde Fachjury trifft die Entscheidung über die Preisvergabe. Sie besteht aus drei Dreiergremien: Eine dreiköpfige Jury für den Kurzfilm, eine für den langen Dokumentarfilm und eine für den langen Spielfilm. In jeder der drei Kategorien gibt es einen Preis für den besten Film. Zusätzlich zeichnet jede Jury zwei besondere Leistungen aus, beispielsweise für Kamera, Musik, Drehbuch und weitere am Film beteiligte Personen.Preise für den besten Film 2023
Zürcher Filmpreis 2023 für den besten Kurzfilm «Fälle» von Mischa Hedinger und Michela Flück, produziert von Mini Films, BurgdorfBegründung der Jury: Als Grenzgänger zwischen Experimental- und Spielfilm, zwischen Tragik und Komik, Absurdität und Abstraktion überrascht dieser Film immer wieder aufs Neue. Es geht um Menschen, die nie ganz ankommen, die nie ganz dazu gehören. Um Außenseiter, Einzelgänger, Suchende. Es geht um die «Suche nach Halt und Solidarität in einer streng geregelten Welt», wie die Synopsis des Films so wunderbar beschreibt. Frei adaptiert nach Daniil Charms übersetzt er dessen absurde Poesie in gegenwärtige, mehrdeutige Bilder – allerdings stets mit einer zeitlosen, universellen Wirkungskraft.
Das Regie-Duo Mischa Hedinger und Michela Flück versinnbildlicht das Grenzgängertum ihres Films in ihrer kreativen Zusammenarbeit. Zwischen Theater, Film und Performance verstehen sie es, einen grossartigen Cast zu einer fantastischen kollektiven Schauspielleistung zu motivieren.
Deshalb zeichnen wir «Fälle» mit dem Zürcher Filmpreis für den besten Kurzfilm aus und möchten damit insbesondere die beeindruckende kreative Kollaboration des Regie-Duos ehren. «Fälle» repräsentiert für uns experimentelle Filmkunst, von der wir gerne mehr sehen möchten in den kommenden Jahren.
Zürcher Filmpreis 2023 für den besten Dokumentarfilm «The Hearing (Die Anhörung)» von Lisa Gerig, produziert von Ensemble Film, Zürich
Begründung der Jury: Vier abgewiesene Asylbewerber:innen durchleben die Anhörung zu ihren Fluchtgründen noch einmal und beleuchten so den Kern des Asylverfahrens in der Schweiz. Wird es den Befragten diesmal gelingen, ihre traumatischen Erlebnisse so zu schildern, dass sie den offiziellen Kriterien genügen? Der Film gibt zum ersten Mal Einblick in die heikle Anhörungssituation und stellt damit das Asylverfahren selbst in Frage.
Der Film gibt Einblick in eine Welt, die man sonst nicht sieht: ein formalisierter staatlicher Prozess, bei dem es um Existenzen geht. Der Filmemacherin gelingt es ohne Pathos, die auf beiden Seiten bestehende Menschlichkeit, die Biografien der Protagonisten und deren Emotionen zu zeigen, ohne vorzuführen oder zu urteilen. Der kluge Umkehrprozess des Spiels wird zur unerwarteten Methode, welche die Perspektiven verrückt und Empathie erzeugt – ein Schlüsselmoment angesichts des europaweiten Rechtsrucks und der damit verbundenen Verschärfung des Asylrechts. Das Geschehen wird von einer zurückhaltenden Kamera parallelisiert, und fügt sich mit dem subtilen Einsatz der Musik zu einem sinnstiftenden Ganzen. Zürcher Filmpreis 2023 für den besten Spielfilm «L’amour du monde» von Jenna Hasse, produziert von Langfilm – Bernhard Lang AG, FreiensteinBegründung der Jury: Am Ufer des Genfersee trifft die 14-jährige Margaux auf das Heimkind Juliette und Joël, einen Fischer, der gerade aus Indonesien zurückgekehrt ist. Vereint in stiller Verweigerung gegenüber dem Leben, werden die drei hin- und hergerissen zwischen Anziehung, Ernüchterung und Fernweh. Ein Coming-of-Age-Film unter der Regie von Jenna Hasse. Es ist der erste lange Film der in Lissabon geborenen und in der Romandie aufgewachsenen Regisseurin. Inspiriert wurde sie für ihre biografisch angehauchte Geschichte vom Roman «L’amour du monde» des Waadtländer Schriftstellers Charles Ferdinand Ramuz (1848-1947). Der Film feierte im Februar 2023 auf der Berlinale seine Weltpremiere in der Sektion Generation und lief ab April in den Schweizer Kinos.
Sommer, Einsamkeit, Zukunftsängste – die Atmosphäre des Films wird in den allerersten Bildern gesetzt. Und lässt einen kaum los: Drei sehr unterschiedliche Personen stehen im Zentrum, deren Schicksale auf kluge und natürliche Weise miteinander verwoben sind. Das Verbindende: Sie stellen sich die grossen Fragen des Lebens, getreu dem Ramuz-Motto, das dem Film vorangestellt ist: «Wie können wir so klein leben, wenn alles so gross ist und es so viel gibt?» Die grossen Themen geht die Regisseurin Jenna Hasse unaufgeregt und wohlüberlegt an. Ihre Schauspielführung ist exzellent, Bildgestaltung, Schnitt, Ton und Musik fügen sich zu einem kleinen Gesamtkunstwerk, das lange nachhallt. Der Film lebt von den kleinen Momenten, die eine bezaubernde Spannung schaffen. Alles kreist um eine grosse Sehnsucht. Nach was? Nach einer fernen Welt, die auch ganz nahe in der Heimat liegen kannAuszeichnungen
Kategorie Kurzfilm
Djibril Vuille Auszeichnung mit dem Zürcher Filmpreis 2023 für die Dialoge in «Aminata»
Begründung der Jury: Wohl nur wer selbst mal versucht hat, intelligente authentische aber euch emotionale und frische Dialoge zu schreiben, weiss, wie schwer das ist. Der Regisseur und Drehbuchautor Djibril Vuille brilliert mit den Dialogen seiner Protagonisten in Aminata und verdient somit eine Auszeichnung für diese herausragende Leistung. Von der ersten Sekunde an schliesst man seine Figuren ins Herz, weil sie so sprechen, wie sie sprechen. Der Rhythmus der Wörter, die Poesie der Sprachbilder, der Humor aber auch die Menschlichkeit verzaubern einen und schaffen Kinomomente, die unabhängig von der Handlung berühren und begeistern.
Mit dieser Auszeichnung wollen wir auch unseren Hut vor dem neuen Schweiz-Afrikanischen Kino ziehen, von dem wir in Zukunft hoffentlich noch viel mehr sehen werden.
Claudius Gentinetta Auszeichnung mit dem Zürcher Filmpreis 2023 für die Regie in «Think Something Nice»
Begründung der Jury: Allein auf einem weiten, stürmischen Meer, bedrängt von den Wänden der viel zu engen Kabine eines sehr kleinen Boots, ein Seemann. Riesig am Horizont die gleissende Sonne – doch sie trägt Markierungen wie ein Gesicht. Und auch der Ton will nicht so richtig zur Szene passen: «Open a little bit wider!» ermahnt eine weibliche Stimme.
Claudius Gentinetta zeigt in seinem Kurzfilm «Think something nice» eine Situation, die die meisten von uns nur zu gut kennen: Der Versuch des totalen Rückzugs in unser Inneres während einer Zahnoperation. Der Mund schmerzhaft gespreizt, die geschlossenen Augen geblendet vom überhellen Operationslicht, die Ohren angstweit aufgespannt, um vielleicht den Moment vorausahnen zu können, wenn der Schmerz zusticht. Jedes Geräusch aus der Zahnarztpraxis löst in den Tiefen dieses inneren Ozeans einen Sturm aus. Gentinetta erzählt virtuos, mit wenigen Bildern von körperhaften Momenten, die tausend Worte kaum zu fassen vermögen. Er verschränkt humorvoll Ton- und Bildebenen und verwendet in beiden eine bemerkenswerte Mischtechnik. Die Bilder in der Praxis sind fotografisch, die Szenerie im Meer aquarellartiger Zeichentrick, das Meer eine Art Petrischalen-Schaumbad – zwischen ihnen vermittelt die aus verschiedenen Quellen komponierte Tonspur.
«Think something nice» ist eine Geschichte über die «condition humaine» des im Körper eingeschlossenen Geists. Das stille Wasser gründet tiefer als auf den ersten Blick wahrnehmbar.
Kategorie Dokumentarfilm
Maria Kaur Bedi & Satindar Singh Bedi Auszeichnung mit dem Zürcher Filmpreis 2023 für das kreative Gesamtkonzept von «The Curse»Begründung der Jury: Die in Bern geborene Filmemacherin Maria und der Inder Satindar verlieben sich ineinander. Doch seine Alkoholsucht verhindern auf fatale Weise ihre gemeinsame Zukunft. Eine poetische, hypnotische, autobiografische, epische Liebesgeschichte zweier durch die Sucht gespaltener Seelen, die versuchen, ihre Liebe zu retten.
Schonungslos zeigen uns zwei Menschen die Geschichte ihrer Beziehung. Mit ihrer innovativen, experimentellen Bildsprache und einem eindrücklichem Ton-Konzept kreieren die Filmemacher eine kathartische Wirkung. Der Film zieht in seinen Bann und entwickelt einen regelrechten Sog. Durch die aussergewöhnliche Intimität und schonungslose Ehrlichkeit der Filmschaffenden, beleuchten sie ein gesellschaftliches Tabu in all seiner Drastik. Die Filmemacher berichten aus der Innenwelt ihrer Liebe, verwandeln Gefühle in visuelle Poesie und führen uns in die brutalen Realitäten des Alkoholismus.
Hanka Nobis Auszeichnung mit dem Zürcher Filmpreis 2023 für die Regie in «Polish Prayers»
Begründung der Jury: Antek, anfangs 20, wächst in einer zutiefst religiösen und rechtsradikalen Familie im heutigen Polen auf. Katholizismus, Nationalismus und vor allem Zölibat prägen seine Welt. Über mehrere Jahre begleitet die Filmemacherin ihn, seine Freunde und seine Familie mit ihrer Filmcrew. Sie sieht, wie Antek seine wachsende Macht in der Bruderschaft geniesst, einer kleinen Gruppe gleichgesinnter junger Männer. Doch als er sich verliebt, kommen Zweifel auf.
Der Debutfilm zeigt anhand der Entwicklung seines jungen Protagonisten eindrücklich auf, dass die jahrelange Polarisierung der politischen Landschaft in Polen zu einer Spaltung in der Gesellschaft führt. So wird der Film nicht nur zum feinfühligen Spiegel einer jungen Generation, sondern zum Porträt einer ganzen Nation. Mit aussergewöhnlichem Zugang, empathischer Kamera, fliessendem Schnitt und einem Musikkonzept, das direkt dem Inneren der Jugendbewegungen entspringt, kreiert die Filmemacherin ein kompromissloses Werk, das viele Fragen aufwirft und eine Debatte eröffnet, die nicht nur in Polen geführt werden muss.
Kategorie Spielfilm
Sandro Di Stefano, Hiltraut Hauschke, Uli Krohm, Vilmar Bieri, Hans Diehl, Julia Brendler, Bodo Krumwiede, Jens Wachholz, Gottfried Breitfuss, Marcus Schäfer, Regula Steiner Tomic, Ingrid Resch Auszeichnung mit dem Zürcher Filmpreis 2023 für das Schauspielensemble von «Aller Tage Abend»Begründung der Jury: Das Alter. Da gibt es nichts zu lachen, oder? In Felix Tissis Welt wird die Vorstellung vom letzten Lebensabschnitt als ewiger Kampf gegen Gebresten und Einsamkeit ad absurdum geführt. Wer jemanden kennenlernen will, verursacht einfach einen kleinen Autounfall. Und wer schon jemanden hat, empfindet Liebe und Vertrauen beim gemeinsamen Abwasch oder beim Socken aufhängen. Aber auch streiten kann äusserst lustvoll sein.
In ausgeklügelten Szenenbildern skizziert der Regisseur diese Welt. Aber das würde nicht funktionieren ohne ein Schauspielensemble, das den Schalk, aber auch den Schmerz fein austariert, mitträgt. Es sind Schauspielerinnen und Schauspieler aus verschiedenen Ländern, die wir nicht unbedingt kennen im Kino. Und die doch diesem Film ein starkes Gesicht geben. Mit solchen Menschen ist leicht zu lachen und zu weinen. Grosses Schauspiel.
Robin Mognetti Auszeichnung mit dem Zürcher Filmpreis 2023 für die Bildgestaltung in «De Noche los Gatos son Pardos»
Begründung der Jury: «De Noche los Gatos son Pardos» hatte seine Premiere 2022 im internationalen Wettbewerb des Locarno Filmfestivals, ab Oktober lief er dann in den Kinos. Valentin Merz und sein Team sind dabei auch vor der Kamera zu sehen, er selber spielt den Regisseur im Film. Und der ausgezeichnete Robin Mognetti spielt seinen Kameramann und Freund.
Die Bilder überzeugen von Anfang an, in diesem geheimnisvollen Film. Sie verzaubern einen, obwohl noch gar nicht auszumachen ist, was die zahlreichen Personen vor der Kamera da anstellen mit ihrer vergossenen Milch, ihren Gewändern und ihrem Geknutsche. «De Noche los Gatos son Pardos» ist mal ein erotischer Kostümfilm, dann ein Thriller um einen verschwundenen Regisseur. Es ist ein Zombie-Film, eine Komödie um ein Schweizer Beerdigungsinstitut, das in Frankreich verloren geht, eine poetische Abhandlung über magischen Realismus in Mexiko. Das alles setzt der Bildgestalter Robin Mognetti in einer kohärenten Bildsprache in Szene. Seine Aufnahmen wecken gleichzeitig Sehnsüchte und Hinterfragen das Geschehen augenzwinkernd. In den besten Momenten heben Mognettis Bilder ab und erzeugen diesen geheimnisvollen Übergang, an dem das Kino wirklich beginnt.